living matter(s)
Plastik befindet sich in der Luft, die wir atmen und im Wasser, das wir trinken, kontaminiert die (Um-)Welt und durchdringt alle Ökosysteme und Lebewesen. living matter(s) erforscht Möglichkeiten der Annäherung an dieses omnipräsente, gleichermassen praktische wie auch problematische Material. Drei Performer*innen waten und kämpfen sich durch eine dystopische Bühnenlandschaft. Gemeinsam versuchen sie in dieser toxischen (Um-)Welt zu überleben, einen Ort der Fürsorge und des Miteinanders zu erschaffen und sich mit ihrer plastifizierten Umgebung zu verbinden. Dabei entstehen unerwartete Verbindungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern, wuchernde Assemblagen aus Plastik und Haut, hybride Ökosysteme.
---
Plastic is in the air we breathe and the water we drink, contaminating the (surrounding) world and permeating all ecosystems and living things. living matter(s) explores ways of approaching this omnipresent, equally practical and problematic material. Three performers wade and struggle through a dystopian stage landscape. Together they try to survive in this toxic world, to create a place of care and togetherness and to connect with their plasticised environment. In the process, unexpected connections between human and non-human bodies emerge, proliferating assemblages of plastic and skin, hybrid ecosystems.
Vorstellungsdaten I Performances
12.9.2023 - 17.9.2023 - 20:00 - Tanzhaus Zürich
29.9.2023 -30.9.2023 - 20:00 - Neubad Luzern
Soundtrack living matter(s) – Serafin Aebli
Credits
künstlerische Leitung: Marie Alexis
Konzept: Marie Alexis, Ivalina Yapova, Mona De Weerdt
Choreografie: Marie Alexis in Zusammenarbeit mit den Tänzer*innen
Dramaturgie: Mona De Weerdt
Raum, Licht, Ausstattung: Ivalina Yapova
Kostüm und Ausstattung: Karen Feelizitas Petermann
Komposition und Sound Design: Serafin Aebli
Text: Mona De Weerdt, Marie Alexis
Tanz: Alice D’Angelo, Naomi Kamihigashi, Ambra Peyer, (Lyn Bentschik)
Produktion: Marie Alexis, Karolina Sarre
Choreografieassistenz: Soraya Leila Emery
Dramaturgische Begleitung Tanzhaus Zürich: Jessica Huber
Szenografieassistenz: Hannah Förster
Fotografie und Grafik: Pascale Lustenberger
Video: Esther Petsche (Kamera), Marie Alexis (Schnitt)
Eine Produktion der compagnie O.
in Koproduktion mit dem Tanzhaus Zürich und dem Kulturhaus Helferei
Unterstützt von:
Stadt Zürich Kultur, Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Ernst Göhner Stiftung, Arte Terra Clima Foundation, Landis & Gyr Stiftung, Albert Huber-Stiftung, Elisabeth Weber Stiftung, Stiftung Anne-Marie Schindler, Migros Kulturprozent, SIS, Stiftung Corymbo, LuzernPlus, Stadt Luzern/FUKA Fonds
Trailer
Video Essay
Aufführungsimpression Tanznachtisch der TanzLOBBY IG Tanz Zürich – Mary Staub
Die Zuschauer sitzen auf Tribünen, auf zwei gegenüberliegende Seiten des zentralen Bühnenraums, und blicken hinab auf eine rechteckige schwarze, gummiartige, zerknitterte Plane, die den grössten Teil des Bodens dazwischen bedeckt. Ein Ölteppich, der das, was darunter liegt, erstickt? Ein Wrestling-Ring zwischen Lebendigem und Materie?
Einige Zuschauer ringen ebenfalls mit der Materie, diejenige ihrer Sitzkissen—zerknülltes Plastik umhüllt von einem gazeähnlichen Kissenbezug. Sie versuchen die Materie so zu bändigen, und arrangieren, damit sie bequem sitzen. Zugleich zähmen sie das Knistern und Rascheln, welches dabei erzeugt wird. Lebendige Materie?
Drei Tänzerinnen in schwarz-glitzernden gummiartigen Unitards gleiten langsam schwarze Rampen, welche die Tribünen jeweils entzweien, hinunter. Eine Gliedmasse gleitet über die andere, schwer, passiv, ohne Muskelwille. In einem tranceartigen Gang begeben sich die Tänzerinnen wieder die Tribüne hoch, um erneut hinunterzugleiten. Immer wieder. Eine leise knisternde Geräuschkulisse kontrastiert die Schwere und Geschmeidigkeit der gleitenden Körper.
Ein Körper nach dem anderen schlüpft unter die schwarze Plane, welche die Bühnenmitte bedeckt, wobei die Person der Tänzerinnen erlischt, nicht aber ihre Formen. Die Plane blubbert und hebt sich mit den sich darunter bewegenden Körpern. Sie pulsiert mit dem Atem der Tänzerinnen, hebt sich und fällt wieder, mit einem dumpfen Dröhnen. Risse und Spalten entstehen im Boden, aus denen langsam verschiedene Formen scheinbar lebloser Materie hervortreten - grauer Schaumgummi, durchsichtiges Zellophan, weisses Netzgewebe, eine Hand, ein Bein, ein Auge, ein Kopf. Oder eben auch hier: Lebendige Materie?
Schon der Titel wirft die Frage auf: "living matter(s)". Lebendige Materie(n)? Ist das Leben wichtig? Welche Angelegenheiten haben mit dem Leben zu tun? Die Bedeutung des Lebens? Hat Leben Bedeutung? Ist Materie lebendig? Wer ist lebendig? Was ist lebendig? Die Fragen sind endlos und der Titel bietet endlose Interpretationsmöglichkeiten.
Im Bühnenraum finden sich Tänzerinnen gelegentlich, aber selten. Sie verbinden sich miteinander. Manchmal bilden sie formbare, sich verändernde Skulpturen, deren Gliedmassen
schwer übereinander fliessen. Ein anderes Mal sind die Formationen kantig, ruckartig, wie Mobiles, ein Ziehen an einem Knie, ein Sechseck aus Gliedmassen, eine Diagonale aus Körpern mit Verzweigungen. Gleich chemischen Verbindungen?
Im Laufe des Stücks betritt immer mehr Materie die Bühne. Während sie anfangs von den Tänzerinnen durch ein sanftes Ziehen, Ruckeln oder Stossen eingeladen wird die Bühne zu betreten, scheint die Materie bald wie von selbst auf die Bühne zu fliessen.
In einem Abschnitt hieven sich alle drei Performerinnen übereinander, schieben und zerren aneinander, aber wieder eher passiv, um die Rampe wieder hinaufzugleiten. Oben angekommen, reissen sie, erst langsam, dann schnell, Ströme von zellophanartigem Material von einer endlos-erscheinenden Rolle los. Sie ziehen, zerren, rütteln, reissen daran, aber schon bald übernimmt die Zellophanrutsche und die Körper werden vom glitschigen Boden hinuntergetragen. Sie rennen hoch, rutschen hinunter, flitzen hoch, purzeln hinunter, eine Strömung aus Zellophan reisst sie mit. Oder reissen etwa doch die Tänzerinnen selber daran?
Später ziehen die Tänzerinnen an langen Stoffen, die hoch oben in der Decke aufgerollt sind. Auch hier zerren sie zunächst langsam, doch bald löst sich ein Wasserfall aus Vorhängen immer schneller von den Rollen und überflutet die Welt.
Andere Materie betritt die Bühne und lässt verschiedene Bilder entstehen - wirbelnde, aufsteigende und krachende Wellen aus gazeartigen Netzen; Planen, die wie Wasser in der Sonne glitzern; schimmernde Skulpturen aus drei Körpern, die wie von Öl zusammengeschmiert sind; vibrierende Netze, die entweder selbst in Resonanz schwingen oder von den darin gefangenen Fischen geschwungen werden (und "living matters!" oder "das Leben ist wichtig/sinnvoll!" schreien!?).
Auf diese Weise kommt es zu einem ständigen Wechselspiel zwischen dem Lebendigen und der Materie, wobei die Grenze zwischen dem was lebende Akteurin und Reaktion auf eine Bewegung häufig verwischt wird.
Die Programmhinweise werfen ähnliche Fragen auf: «Materie umgibt und durchdringt uns, kann geformt und manipuliert werden, aber auch auf unvorhersehbare und unkontrollierbare Weise auf den menschlichen Körper einwirken. Wie verändert sich unser Zugang zur Welt, wenn wir Materie nicht als manipulierbar und leblos erachten, sondern als wirkmächtig, handlungsfähig, vital und selbstwirksam?»
Nach "living matter(s)", während des Tanznachtischs (der von Mitgliedern von TanzLOBBY geleiteten Publikumsdiskussion), diskutierte eine kleine Gruppe von Zuschauern - einige von ihnen waren es gewohnt, Tanz zu sehen, andere nicht - und tauschten ihre Eindrücke von dem Stück aus. Für die meisten von ihnen waren die Bewegung und die Inszenierung zwar abstrakt, aber "living matter(s)" liess dennoch konkrete Bilder oder sogar vollständige Erzählungen entstehen. Ein Ölteppich, der alles erstickt und sich im Laufe des Stücks immer weiterentwickelt und neue Formen annimmt. Drei Körper in Brautkleidern aus hauchdünnem
Netzgewebe, die sich gemeinsam wiegen. Wasservögel, die sich nicht so bewegen können, wie es die Natur vorgesehen hat, weil ihre Federn durch die ölverschmierte Materie am Körper festgeklebt sind. Fischernetze. Wogende Wellen.
Das Stück hat auch viele Fragen in Bezug auf das Lebendige und die Materie aufgeworfen: Ist es möglich, dass das Lebendige mit der Materie verschmilzt? Hat es das bereits? Waren die Arbeiterinnen (Tänzerinnen) Sklaven der Materie, die sich ihren Weg durch immer grösser werdende Haufen unbelebter Materie bahnen mussten - eine Sisyphusarbeit? Oder haben die Arbeiterinnen die Materie zurechtgeformt, und jene Welt dabei kreiert, die sie wollten?
(Eine andere, eher praktische Frage war: Wer wird all diese Materie aufräumen?)
Die Bewegung der Performerinnen fesselte die meisten ebenso wie die Bilder, die die Materialien auf der Bühne erzeugten. Die Materialien warfen die Frage auf, inwiefern es vertretbar ist, Plastik, Kunststoffe, oder Materie zu ästhetisieren. Das Publikum fand, dass die lebende Materie auf der Bühne (die Tänzerinnen) nur selten Emotionen zeigten, nur ein gelegentliches inneres Lächeln, wenn sie an der einen oder anderen Stelle miteinander verbunden waren. Diese Momente gefielen. Einige Leute hätten sich mehr solcher Momente gewünscht - eine klare Präsenz des Lebendigen in der Materie. Vielleicht war das aber auch der Sinn der Sache - das Lebendige in der leblosen Materie verschwinden zu lassen und uns zum Nachdenken darüber zu bringen, was dies bedeutet.
---
Audience members frame two opposite sides of the central stage-space, rising on bleachers on either side, peering down on a rectangular black rubbery, crumpled tarp that covers most of the floorspace in between. An oil spill that suffocates that which lies beneath? A wrestling ring for living versus non-living matter?
Some audience members already wrestle with the non-living matter of their seat cushions— seemingly scrunched up plastic in a gauze-like pillowcase. They try to adjust it just so for comfort, while taming the crackle and rustle it emits. Living matter?
Three dancers in glistening, scaly tight rubber unitards slide down rubbery ramps that run down the center of the bleachers. One limb oozes over the next, heavily, slowly, passively, without will or muscle—the only sign of volition when the dancers climb back up to the top of their side of the bleachers, in a dreamlike trance. A softly crackling soundscape contrasts the smoothness of the sliding bodies.
One by one the bodies slither under the black tarpaulin center-stage, the details of the dancers thereby disappearing, but not their form—the tarp bubbles, rises and falls from the bodies moving underneath. These breathing pulses create cracks and crevices in the plastic surface. Various forms of seemingly non-living matter slowly spill forth—grey rubber foam, translucent cellophane, white gauzed netting, a hand, a leg, an eye, a head. Or is it living matter?
The title itself begs the question. “living matter(s)”. Matters of life? Matters that live? The meaning of living? Is matter alive? What matter lives? Does living matter? Is it important to live? Who is alive? What is alive? The questions are endless.
Occasionally the dancers connect with one another, at times forming and reforming malleable sculptures, limbs heavily flowing over one another. At other times, the formations are angular, jerky, like mobiles, a pull on a knee, a hexagon of limbs, a lunged diagonal. Embodied chemical compounds?
Throughout the piece, more matter enters the stage. While initially invited by the dancers through a soft tug, jerk, or jolt, the matter soon seems to flow onto stage as though on its own.
In one section, all three performers heave themselves over one another, pushing and tugging, but passively, to drip back up a ramp. At its top, they unleash, first slowly then rapidly, endless
reams of cellophane-like material from an infinite-seeming reel. They tug as though trying to empty the role, but soon the ribbons of tape take over, carrying the bodies down the ramp on a slippery slide of cellophane. The bodies run up, slide down, dash up, tumble down, a stream of cellophane gushing and ripping underneath.
Or are the dancers ripping at it after all?
In another section, the dancers start pulling on lengthy drapes attached high overhead on reels in the rafters. Again, first they tug slowly, but soon a waterfall of drapes releases ever-more- rapidly from the rolls overhead, inundating the world beneath.
Other matter enters the stage, giving rise to various images—waves of gauze swirling and rising and crashing; ripples of tarp, glistening like water in the sun; the glistening sculptures of three bodies slicked together as though by oil; vibrating nets with either the nets themselves swinging in resonance or being swung by fish caught therein (screaming “living matters”!?).
In this way, there’s a constant interplay of living and non-living matter, frequently blurring the boundary of who or what is which.
The program notes raise similar questions: “Matter surrounds and permeates us, can be shaped and manipulated, but can also affect the human body in unpredictable and uncontrollable ways. How does our approach to the world change when we consider matter not as manipulable and lifeless, but as effective, capable of action, vital and self-effective?”
After “living matter(s)”, during Tanznachtisch (the audience talk-back led by members of TanzLOBBY), a small group of spectators—some were regular dancegoers, but others weren’t—exchanged their impressions from the piece. For most of them, while the movement and staging were abstract in nature, “living matter(s)” created concrete images or even full-blown narratives. An oil slick that suffocates everything and continuous to develop and take new forms throughout the piece. Three bodies in bridal gowns of gauzed netting swaying together. Waterfowl unable to move as intended by nature because their feathers are glued to their bodies by sheets of oil-slick matter. Fishing nets. Undulating waves.
What stood out was that the piece gave produced many questions related to living and matter—is it possible for the living to fuse with matter? Has it already? Were the workers (dancers) slaves to the matter, heisting and heaving their way through ever-growing heaps of non-living matter, a Sisyphean task? Or did the workers shape the matter, thereby creating the world they wanted?
(One question of a more practical matter was: who’s going to clean all this up?)
The movement of the performers captivated most of the Tanznachtisch participants, as did the images created by the materials onstage. The abundance of these non-living materials also gave rise to the question of whether it’s ok to aestheticize plastic when we know of all the harm it does. Some in the audience commented that the performers rarely showed emotion, only an occasional inner smile when they connected with one another. Those moments were relished. Some people would have liked more such moments—a clear presence of the living within the non-living surrounding matter. Or maybe that was the
point—to have the living disappear into the matter and make us think about what that means.
Presse
Tanz mit Materie – Válerie Hug in null41 Kulturmagazin (03.09.2023)